Sven Giegold

Brief an Ursula von der Leyen zum Europatag: EU-Kommission muss Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten

Anlässlich des Europatages mit dem 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung habe ich mich mit einem Brief an die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewandt. In den letzten elf Jahren habe ich die Währungsunion und die Finanzmarktpolitik der EU mitgestaltet. Für die Schaffung der gemeinsamen Bankenaufsicht in der EZB war ich als Berichterstatter im Europaparlament beteiligt. Und gerade als deutscher Europaabgeordneter mit dem Schwerpunkt Wirtschaft und Währung hat mich die PSPP-Entscheidung in den letzten Tagen keine Ruhe gelassen. Ihr und sie finden meinen Brief unten.

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Düsseldorf/Brüssel, den 9. Mai 2020

Sehr geehrte Frau Kommissionspräsidentin von der Leyen,

vor 70 Jahren legten Visionäre die Grundlagen unserer europäischen Rechtsgemeinschaft. Heute ist genau diese Rechtsgemeinschaft bedroht durch die jüngste Eskalation eines seit vielen Jahren schwelenden Streits zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof. Die europäische Währungsunion als Gegenstand dieses Streits um die Rechtsgemeinschaft kommt angesichts der Vertiefung der Spaltungen in der Eurozone durch die Coronakrise zur Unzeit.

Das BVerfG nötigt die Deutsche Bundesbank sowie Bundesregierung und Bundestag in einen Konflikt mit der EZB. Das Bundesverfassungsgericht weist zwar zahlreiche Klagegegenstände zurück und gibt daher durchaus Raum für die Fortsetzung von Anleihekäufen durch das Eurosystem. Das Gericht fordert aber eine genauere Darlegung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Angegriffen wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aber nicht die Unabhängigkeit der Zentralbanken an sich. Gerade die politische Unabhängigkeit der EZB und der nationalen Zentralbanken sowie die weltweit wohl einzigartige Machtfülle der EZB liefert gute Gründe für die Legitimität und Notwendigkeit richterlicher Kontrolle. Die Urteilsbegründungen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zeigen durchaus auf, welche Debatten im Europaparlament im Rahmen des geldpolitischen Dialogs hätten – freilich als europäische Debatten – tiefer geführt werden müssen.

Nun bieten die Karlsruher Richter dem EZB-Rat zwar die Möglichkeit mit einem neuen, genauer begründeten Beschluss, einen Ausstieg der Bundesbank aus dem PSPP zu vermeiden. Damit würde die EZB dem Richterspruch eines nationalen Gerichtshofs nachkommen, dem es gar nicht unterliegt. Auf diese Weise könnte die EZB die Karlsruher Forderungen “abtropfen” lassen. Doch wäre damit höchstens kurzfristig etwas gewonnen, denn der Konflikt zu den ökonomisch noch wichtigeren Anleihekäufen im Rahmen von PEPP ist im Urteil bereits angelegt. De jure gilt das PSPP-Urteil zwar ausdrücklich nicht für PEPP. Es steht jedoch zu befürchten, dass sich die Bundesbank wie auch Bundesregierung und Bundestag nun in der Pflicht sehen, mindestens gegen die derzeitige Ausgestaltung von PEPP vorzugehen. Daher ist das Karlsruher Urteil in seinen Auswirkungen zu ernst, um es erstmal zu ignorieren.

Doch die Bedeutung der Entscheidung für die Rechtsgemeinschaft ist grundlegender als für die Währungsunion. Wir leben in Zeiten von vielen Anzeichen für Renationalisierung, Angriffen auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in mehreren EU-Mitgliedsländern und mangelndem europäischen Zusammenhalt in der Krise. In diesen Zeiten wirkt die Entscheidung wie eine Einladung auch an andere nationale Höchstgerichte, europäische Entscheidungen als “ultra vires” zu erklären und die letztinstanzliche Auslegung von Europarecht durch den Europäischen Gerichtshof somit zu umgehen.

Der Bau des europäischen Hauses hat schon viele Krisensituationen überstanden durch eine Mischung aus Klarheit in den europapolitischen Zielen und Pragmatismus im Vorgehen. Daher wäre es auch hier ein Fehler, wenn alle europäischen Institutionen nun die vom Bundesverfassungsgericht im PSPP-Urteil angelegten Zündschnüre entzündeten. Letztlich muss auch dieser europäische Konflikt durch einen gesichtswahrenden Kompromiss gelöst werden. Dabei ist der Raum für Pragmatismus im Bereich der Währungsunion größer als für die Rechtsgemeinschaft. Ein sich aufschaukelnder Konflikt um die Anleihekäufe zwischen Bundesbank und EZB würde der Stabilität der Währungsunion eben nicht helfen. Dagegen müssen sich alle EU-Institutionen nun eindeutig hinter den Europäischen Gerichtshof stellen. Der Rat der Mitgliedsländer und das Europaparlament sind gefordert zügig entsprechende Erklärungen zu verabschieden. Doch als Hüterin der Verträge ist zuerst die Europäische Kommission gefordert. Sie muss aufgrund des Urteils ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland einleiten. Das Ziel der Feststellung einer Vertragsverletzung erzwingt dabei nicht noch weitergehenden Sanktionen anzustreben. Wer A sagt muss angesichts der Unabhängigkeit von Gerichten nicht B sagen. Doch die EU-Kommission darf keinen Zweifel daran lassen, auf welcher Seite sie steht. Diese Klarheit der Hüterin der Verträge gäbe auch dringend benötigten Raum für pragmatische Lösungen im Eurosystem. Denn angesichts der fehlenden gemeinsamen Fiskalpolitik brauchen wir für die Stabilität unserer Währung die gemeinsame Geldpolitik nötiger denn je. Gleichzeitig ist das richterliche Urteil in Zeiten höherer Verschuldung im Zuge der Coronakrise ein Weckruf, die politischen Anstrengungen für eine tiefere gemeinsame Finanz- und Steuerpolitik zu verstärken. Die kommenden Ratspräsidentschaften Deutschlands und Frankreichs bieten hierzu eine günstige Gelegenheit.

Mit freundlichen Grüßen
Ihr Sven Giegold,

Obmann der Grünen/EFA im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europaparlaments

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Zum pdf des Briefs: https://sven-giegold.de/wp-content/uploads/2020/05/brief_uvdl_bverfg_giegold_2020050.pdf