Sven Giegold

Der Stabilitätspakt hat immer mehr Bruchstellen

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In der Euro-Krise sollte die Aufsicht über die nationale Haushaltspolitik verschärft werden. In der Praxis gewährt die Europäische Kommission aber immer mehr Ausnahmeregelungen.

Von Werner Mussler BRÜSSEL, 30. Oktober.

Wird der EUStabilitätspakt schon wieder geändert?
Der Vorstoß des Chefs der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, der Erleichterungen für Staaten in Defizitverfahren an Reformzusagen knüpfen will, liefe darauf hinaus. Er schlägt vor, dass im Pakt erstmals die EU-Aufsicht über die nationale Finanzpolitik mit Reformauflagen verbunden wird, die sich etwa auf Politikfelder wie die Arbeitsmarkt- oder Rentenpolitik beziehen. Fest steht: Einfacher würde die Anwendung des Pakts dadurch nicht.

Ursprünglich war der Stabilitätspakt eine relativ simple Vorkehrung, die sicherstellen sollte, dass die Maastrichter Grenzwerte für den Staatshaushalt -die Neuverschuldung darf nicht mehr als drei Prozent, der Schuldenstand nicht mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen – eingehalten werden. Als sich Deutschland und Frankreich im Jahr 2003 weigerten, sich selbst den Regeln des Pakts zu unterwerfen, wurde dieser 2005 aufgeweicht. Vor allem für konjunkturell schlechte Zeiten wurden Abweichungen von den Defizitgrenzwerten erlaubt, zugleich sollen die Staaten in guten Zeiten aber deutlich unter die Drei-Prozent-Marke kommen.

Die nächste Änderung wurde im Jahr 2011 beschlossen. Damals herrschte unter den EU-Staaten Konsens, dass der aufgeweichte Pakt die überbordende Staatsverschuldung mit verursacht hatte – deshalb wurde er nun wieder verschärft. Die engmaschigere Haushaltsaufsicht durch die Brüsseler Behörde ist Teil des in der Euro-Krise beschlossenen „europäischen Semesters“, mit dem eine engere wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU erreicht werden soll. Das „Semester“ soll auch helfen, Fehlentwicklungen frühzeitig zu erkennen. Vorgesehen ist beispielsweise, dass die EU-Kommission die nationalen Haushaltsentwürfe frühzeitig, also vor der endgültigen Billigung durch die nationalen Parlamente auf ihre Vereinbarkeit mit dem Stabilitätspakt überprüfen soll. Damit soll möglichen Verstößen  vorgebeugt werden.

Dass es indes in der Praxis hakt, hat sich nun wieder gezeigt. Die Anwendung des Pakts hängt wie schon bisher vom guten Willen der Beteiligten ab, der unterschiedlich ausgeprägt ist. Der vorläufige italienische Haushaltsplan, der am 15. Oktober kurz vor Mitternacht – und damit zum letztmöglichen Zeitpunkt – in Brüssel einging, war eher eine kurze Skizze mit ein paar Zahlen. Die Brüsseler Behörde konnte damit nichts anfangen. Als sie das italienische Haushalts-Fragment zunächst akzeptierte, sprach der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold davon, dass nun schon wieder „italienische Extrawürste gebraten“ würden.

Zwar hat die Regierung in Rom mittlerweile eine verspätete ausführliche Version nach Brüssel geschickt. Giegold kritisiert den Umgang der Kommission mit Italien aber schon länger. Dass die Behörde im Frühjahr das italienische Defizitverfahren beendete, ging nach seiner Meinung auf eine fragwürdige mathematische Rundung zurück: 2012 betrug das italienische Staatsdefizit nach den damaligen Zahlen der Statistikbehörde Eurostat 3,04 Prozent des BIP -strenggenommen also mehr als der Grenzwert von 3,0 Prozent. Dieses Rundungsproblem mag angesichts einer neueren Eurostat-Schätzung von 2,998 Prozent ausgeräumt sein.

Die Kommission muss in ihrer Empfehlung für das Ende eines Defizitverfahrens aber auch die Perspektiven für eine dauerhafte Haushaltskonsolidierung in den Blick nehmen. Und die waren und sind eher ungünstig; die deutschen Forschungsinstitute erwarten in ihrer Herbstprognose für 2013 ein italienisches Defizit von 3,3 Prozent.
Die Regierung in Rom lamentiert vor diesem Hintergrund seit längerem über die „starren“ Maastrichter Vorschriften und reklamiert, dass sie mit höheren Staatsausgaben für mehr Wachstum sorgen könne. Doch in Wirklichkeit wird der ohnehin nicht mehr starre Pakt in jüngster Zeit weiter „flexibilisiert“. Die EU-Staats- und -Regierungschefs haben im Dezember 2012 eine neue Interpretation  beschlossen. Demnach sollen im „präventiven Arm“ des Pakts, solange das Defizit also unter drei Prozent liegt, „Zukunftsinvestitionen“ besonders gewürdigt werden. Die Interpretation erlaubt es der Kommission, von der generellen Regel des präventiven Arms- das strukturelle, also um konjunkturelle Schwankungen bereinigte Defizit soll nicht mehr als 0,5 Prozent des BIP betragen – abzuweichen.

Währungskommissar Olli Rehn hat in einem Brief an die Finanzminister als Hauptbedingung genannt, dass die Staaten ihre „Investitionsausgaben“ in Projekte stecken, die auch von der EU gefördert werden, etwa über die Struktur-und Kohäsionsfonds. Davon sind viele Staatsausgaben betroffen. Außerdem darf für das nominelle Defizit die Drei-Prozent-Marke nicht überschritten werden.

Als die EU-Finanzminister vor zwei Wochen über diese Ausnahmeregelung diskutierten, warnte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) vor einer „Uminterpretation der Kriterien“,mit der Vertrauen in den reformierten Pakt zerstört werde. Dem Vernehmen nach waren auch die meisten anderen Minister der Meinung, angesichts der derzeit überall zu hohen Staatsverschuldung passe die Ausnahme nicht in die politische Landschaft. Freilich kann jedes Land die Berücksichtigung der Investitionsausgaben beantragen, und die Kommission kann darüber ohne die Zustimmung des Ministerrats entscheiden.

Derzeit sieht es so aus, dass nur Italien einen solchen Antrag stellen wird. Eine weitere Ausnahmeregelung, die ebenfalls den präventiven Arm betrifft, ist zunächst auf Eis gelegt worden. Die Kommission hatte den Mitgliedstaaten eine überarbeitete Methode zur Berechnung des strukturellen Defizits vorgelegt, von der vor allem Krisenländer mit hoher Arbeitslosigkeit profitiert hätten. Sie wäre darauf hinausgelaufen, die sogenannte natürliche Arbeitslosigkeit kleinzurechnen. Diese gibt an, wie viele Arbeitnehmer auch in konjunkturell guten Zeiten keine Stelle finden. Wenn die natürliche Arbeitslosigkeit als gering ausgewiesen wird, ist auch das strukturelle Defizit geringer – die 0,5-Prozent-Vorgabe wäre leichter zu erreichen. Wegen des Widerstands der Bundesregierung ist die Neuberechnung vorläufig nicht beschlossen worden, liegt aber auf Wiedervorlage.

Eine weitere Ausnahme von der Drei-Prozent-Regel hat Rehn bereits zugesagt, sie ist eine Folge der Bankenkrise. Wenn Staaten nach der anstehenden Banken-Bilanzprüfung durch die Europäische Zentralbank (EZB) gezwungen sein sollten, einzelne unterkapitalisierte Banken aus Steuermitteln mit neuem Kapital auszustatten, soll dies als „einmalige Maßnahme“ im Sinne des Pakts gewertet werden. Diese wird nicht zur Eröffnung eines  Defizitverfahrens führen, auch wenn dadurch das Staatsdefizit über den Drei-Prozent-Wert getrieben werden sollte. Rehn betont, die EUFiskalregeln verhinderten keine wirksamen öffentlichen Bankenhilfen. Die Klarstellung ist eine indirekte Folge der vor allem auf deutsches Betreiben getroffenen Regelung, dass eine mögliche Bankenrettung, soweit sie nicht komplett von Aktionären und Gläubigern getragen werden kann – sogenannter „Bail-in“ -, von den Mitgliedstaaten zu leisten ist.

Die Ausnahmen machen die Anwendung des Stabilitätspakts genauso unübersichtlich wie das komplizierte Verfahren innerhalb des „Semesters“. Von der jetzt erfolgten Vorlage des ersten Haushaltsplans bis zu möglichen Beschlüssen zu laufenden oder neuen Verfahren im Juni vergeht fast ein Dreivierteljahr, dazwischen liegen etliche Zwischenschritte. Ob die vielen Verfahren Konsequenzen haben, ist ohnehin zu bezweifeln.
Von den 17 Eurostaaten befinden sich derzeit zwölf in Verfahren, weil ihr Defizit zu hoch ist. Alle haben ein Zieljahr, bis zu dem sie es wieder unter drei Prozent senken müssen. Es wäre ein Wunder, wenn 2014 die Fristen für einige Länder nicht abermals verschoben
werden müssten – ohne dass es zu den Sanktionen käme, die ursprünglich den Kern des Pakts ausmachten. Und es ist abzusehen, dass die Anwendung des Pakts noch komplizierter würde, wenn Dijsselbloems Vorschlag in die Tat umgesetzt würde.

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