Sven Giegold

Die aggressive Festung

Artikel für den Freitag vom 25.02.2011

Die aggressive Festung

Sven Giegold über den Umgang mit den Flüchtlingen im Mittelmeer: Die moralischen Grenzen der EU sind schnell erreicht

Der Mittelmeerraum bestimmt die aktuellen Nachrichten: Revolutionen in Tunesien und Ägypten, aber auch das brutale Vorgehen der Polizei und das Flüchtlingsdrama auf Lampedusa. Das auf den ersten Blick erstaunliche Zusammenfallen dieser Ereignisse ist bei näherem Hinsehen alles andere als ein Zufall. Denn mit dem Sturz von Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien verschwand nicht nur ein Diktator, sondern auch ein wichtiger Verbündeter der EU-Flüchtlingspolitik.

Das Regime hatte mit verschärften Grenzkontrollen und härteren Strafen für Schleuser dafür gesorgt, dass viele Menschen das Land gar nicht erst verlassen konnten. Ähnliche Abkommen bestehen etwa mit Libyen: eine Zusammenarbeit, die sich die EU einiges kosten lässt. So hält die Europäische Kommission ungeachtet der aktuellen Ereignisse an einer Zahlung von 50 Millionen Euro an Gaddafi für seine Unterstützung im Kampf gegen Flüchtlinge fest. Und das, obwohl dem libyschen Diktator ein Menschenleben, abgesehen von seinem eigenen, nicht viel wert ist, was nicht erst bekannt ist, seit er seine eigene Bevölkerung bombardieren lässt.

Ein ähnlich widersprüchliches Verhalten legt die EU in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Afrika an den Tag. Während einerseits wortreich das Recht auf Entwicklung besungen wird, wird andererseits eine aggressive Wirtschaftspolitik vorangetrieben, die diesem Ziel zuwiderläuft. So nutzt das kürzlich im Rahmen der WTO geschlossene Übereinkommen über Bananenzölle den Latino-Bananen der Multis. Kleine Produzenten aus Afrika, der Karibik und den Pazifik-Ländern, die bisher zu günstigen Konditionen in die EU exportieren konnten, verlieren durch sinkende Preise an Einkommen.

Neokoloniale Manier

Gleichzeitig überschwemmt die EU den Kontinent mit ihren stark subventionierten Agrarprodukten und verdrängt auf diese Weise lokale Erzeugnisse. Vor den Küsten zerstört die Überfischung der Ozeane durch industrielle Fischfangflotten die Existenzgrundlage familiärer Fischereibetriebe – auf dem Weltsozialforum kürzlich in Dakar wurde viel darüber berichtet.

Auch auf dem afrikanischen Festland beuten europäische Konzerne im Konzert mit anderen Konkurrenten ungehemmt Rohstoffvorkommen aus. Eine Weiterverarbeitung vor Ort, die das Entstehen neuer Industrien mit sich bringen könnte, ver-hindern die im Regelwerk der WTO festgelegten Zölle. Was hingegen  zurückbleibt, sind die mit dem Abbau von Rohstoffen einhergehenden gravierenden sozialen und ökologischen Auswirkungen.

Das alles hat mit Entwicklung nicht viel tun – das ist Ausbeutung in bester (neo-) kolonialer Manier.

Der Druck auf die europäischen Grenzen wird auch deshalb kaum abnehmen – ganz im Gegenteil. Denn der Klimawandel wird die Lebensbedingungen im globalen Süden weiter verschlechtern, etwa in Gestalt zunehmender Dürreperioden. Und auch hierfür sind die Ursachen unter anderem in Europa un seinem ungehemmten CO2-Ausstoß zu suchen. Deren Folgen treffen somit die Menschen am härtesten, die am wenigsten zur Entstehung des Klimawandels beigetragen haben und sich aus Geldmangel am schlechtesten dagegen schützen können.

Statt nun aber die Ursachen der Flucht anzugehen, begnügt sich Europa in erster Linie mit Symptombekämfung. In der Wahl der Mittel sind die Europäer dabei nicht zimperlich.

Nicht nur werden autokratische Regimes bezahlt, um die Flüchtlinge aufzuhalten. Wer von den Flüchtlingen das Mittelmeer erreicht, muss damit rechnen, mit Frontex Bekanntschaft zu machen. Die europäische Grenzschutzagentur hat sich durch ihr teilweise menschenrechtswidriges Vorgehen in kurzer Zeit einen zweifelhaften Ruf eingehandelt. Immerhin hat das Europäische Parlament seit dem Lissabon-Vertrag ein Mitbestimmungsrecht bei der Finanzierung von Frontex. Diese neue Kompetenz muss es nun aber auch nutzen, um Menschenrechte zu schützen.

Scheinheilige Maske

An ihren Außengrenzen tritt die EU diese Rechte mit Füßen – und nicht nur dort. Auch Menschen, die ohne legalen Aufenthaltsstatus in Europa leben, wird ein würdevolles Leben verwehrt. Offiziell zugelassen werden bloß gut ausgebildete Fachkräfte. Nicht nur an ihren physischen Grenzen gleicht die EU also einer Festung, sondern auch an ihren moralischen.

Spätestens seit Immanuel Kant ist die Vision einer Welt ohne Grenzen ein Ziel von Humanistinnen und Humanisten. Doch die Realität setzt dieser Vision Schranken. Erste Schritte in die richtige Richtung bestünden etwa in der Legalisierung des Aufenthaltsstatus von Menschen, die bereits in der EU leben, und in einem ungehinderten Zugang zu Bildung sowie medizinischen Leistungen in der gesamten Union. Außerdem brauchen wir einen legalen Weg zur Zuwanderung, der zumindest teilweise unabhängig von ökonomischen Erwägungen der Aufnahmeländer funktioniert.

In erster Linie müssen jedoch die Ursachen globaler Ungleichheiten in den Blick genommen werden. Sicher tragen korrupte Eliten in den afrikanischen Ländern einen großen Teil der Verantwortung. Doch solange die EU ihre wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Beziehungen zu den afrikanischen Staaten sowie ihr klimapolitisches Verhalten nicht grundlegend ändert, kann sie nicht glaubwürdig good governance einfordern. So lange bleibt die Rede von Menschenrechten nichts weiter als die scheinheilige Maske einer aggressiven Festung.

Sven Giegold ist Grünen-Abgeordneter im Europäischen Parlament. Er hat Attac Deutschland mit gegründet.

Rubrik: Veröffentlichungen

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