Sven Giegold

Missbrauch von Reserveantibiotika in der Massentierhaltung weiter möglich: Kein Schutz vor Resistenzen gewährleistet!

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Interessierte,

die Fake-News-Kampagne des “Bundesverbands praktizierender Tierärzte” hat Wirkung gezeigt. Unser Einspruch gegen die laschen EU-Regeln für Reserveantibiotika wurde abgelehnt.

Das ist ein sehr schlechtes Ergebnis für Mensch und Tier. Reserveantibiotika fehlen schon heute in der Human- und Tiermedizin und Resistenzen breiten sich immer weiter aus. Mehr und mehr Menschen leiden an Infektionen, bei denen kein Antibiotika mehr anschlägt. Allein in Europa sind im letzten Jahr 33.000 Menschen an dieser schleichenden Pandemie gestorben. Demgegenüber steht das Geschäftsmodell in der Massentierhaltung. Von meiner Frau, die als Ärztin arbeitet, kenne ich die Verzweiflung in den Krankenhäusern, wenn selbst die Reserveantibiotika nicht mehr richtig anschlagen. Ohne Massenanwendung von Antibiotika wäre auch die Ausbeutung der vielen Millionen Tiere in der industriellen Landwirtschaft so nicht möglich. 66% aller Antibiotika werden in der Landwirtschaft verwendet. Nahezu jedes Huhn, jede Pute und jedes Schwein in der industriellen Massentierhaltung bekommt Antibiotika. Es werden allein 80 Tonnen des Reserveantibiotikums Colistin pro Jahr in der Massentierhaltung verwendet – vorzugsweise in der gefährlichen Gruppenbehandlung ganzer Ställe. Davon profitieren die Pharmaunternehmen und die verordnenden Tierärzte ganz direkt finanziell.

Wir Grüne haben deshalb immer gefordert: Reserveantibiotika raus aus der Massentierhaltung, die Behandlung von Haustieren und Nutztieren damit soll aber erlaubt bleiben. Dafür haben wir heute keine Mehrheit bekommen.

Die Agrarlobby und eine kleine Gruppe der Tierärzte hat mit fake news erreicht, dass die EU-Kriterien für Reserveantibiotika schwächer sind als die Anforderungen der Weltgesundheitsorganisation. Es besteht ein großes Risiko, dass in Zukunft nicht ausreichend Antibiotika für die Humanmedizin zurückgehalten werden. So können wir die Gefahr vor Antibiotikaresistenzen nicht ausreichend einschränken. Viele Humanmediziner*innen wie die Bundesärztekammer und der Weltärztebund unter Führung von Frank Ulrich Montgomery hatte unseren Einspruch deshalb ausdrücklich unterstützt. Im federführenden Umweltausschuss des Europaparlaments hatte noch eine Mehrheit der Mitglieder für unseren Antrag gestimmt.

Grüne, Linke und Teile der Sozialdemokrat*innen stimmten im Plenum des Europaparlaments für unseren Einspruch, doch Christdemokrat*innen, viele Sozialdemokrat*innen, Liberale und Rechtspopulisten haben gegen unseren Einspruch gestimmt.

Desinformationskampagne der Lobby

Dass es dazu gekommen ist, ist vor allem auf die Desinformationskampagne des “Bundesverbands praktizierender Tierärzte” zurückzuführen. Dieser Lobbyverband fuhr seit vier Wochen eine völlig verlogene Kampagne und nutze die Tierliebe tausender Haustierhalter*innen aus, um das Geschäftsmodell einer kleinen Gruppe von Tierärzt*innen und die Gewinne einiger Pharmaunternehmen und von Massentierhaltungsbetrieben zu schützen. Lügen-Lobbyismus dieser Form und Schärfe haben wir selten erlebt. Nicht nur arbeitete der “Bundesverband praktizierender Tierärzte” mit falschen Informationen, er nahm auch billigend in Kauf, dass Abgeordnete wie mein Kollege Martin Häusling, die sich für einen besseren Schutz vor Antibiotikaresistenzen einsetzen, übelsten Beleidigungen und Morddrohungen ausgesetzt waren.

Obwohl unsere grünen Kompromissvorschläge gestern eine Mehrheit im Parlament fanden und auch die Anträge der Christdemokrat*innen angenommen wurden, stimmte eine Mehrheit des Europaparlaments dennoch gegen unseren Einspruch. Somit wird der Gesetzesvorschlag der EU-Kommission in Kraft treten. Bis Ende Januar 2022 wird die EU-Kommission nun auf Basis ihrer schwachen Kriterien die Liste der EU-Reserveantibiotika vorlegen.

Lobbykampagne schadet Haustieren

Der Bundesverband der praktizierenden Tierärzte hat mit der Fake-News-Kampagne allen Tierhalter*innen und Haustieren einen Bärendienst erwiesen. Denn seit heute ist klar: Es wird nun gar keine Ausnahmen für Haustiere geben! Alle Reserveantibiotika werden für Haustiere verboten sein. Die individuelle Nutzung der Reserveantibiotika bei Haustieren wäre nur nach unserem Einspruch möglich gewesen. Damit ist diesen Tieren sicher nicht geholfen. Die einzigen Profiteure sind große Pharmaunternehmen und die industrielle Massentierhaltung. Denn hier soll es großzügige Ausnahmen geben.

EU-Kommission will strenger sein – wir bleiben dran!

Immerhin: Für Menschen konnten wir einen Teilerfolg erzielen. Die EU-Kommission ist auf Drängen von Martin Häusling eingeschwenkt und hat zugesagt, strenger entlang der WHO-Kriterien zu handeln. Antibiotika in der Tiermedizin sollen auf das “absolute Minimum” reduziert werden. Damit besteht die Chance, dass wir ausreichend Antibiotika für die Behandlung am Menschen zurückhalten. Im Europaparlament werden wir Grüne jetzt genau darauf achten, wie Kommission ihre bisher informelle Zusage in der Praxis umsetzt.

Wir Grüne lassen uns von der Lügen-Kampagne nicht abschrecken. Denn am Ende zählt, dass wir die Antibiotikaresistenzen stoppen. Sonst drohen zehn Millionen Tote jährlich weltweit bis 2050. Dazu müssen wir den Einsatz von Reserveantibiotika in der Massentierhaltung beschränken z.B. in der Hühner- und Putenmast. Wir werden dafür weiter streiten.

Mit grünen europäischen Grüßen

Sven Giegold


Hinweis: Dieser Blogbeitrag wurde innerhalb der letzten 2 Monaten vor der Bundestagswahl 2021 veröffentlicht. In diesem Zeitraum wurde die Homepage und die zugrunde liegende IT-Infrastruktur aus Wahlkampfmitteln und nicht aus dem Parlamentsbudget finanziert.

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