Auf Einladung des Grünen Europaabgeordneten Philippe Lamberts fand am 09. März 2012 im Europäischen Parlament ein Workshop zum Thema „Hintergrund und Nebeneffekte der Stabilisierungspolitik von Zentralbanken“ statt. Als Referenten standen Ashwin Parameswaran (vormals Banker) und Prof. Paul De Grauwe (Universität Leuven) Rede und Antwort.
Seit Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise haben Zentralbanken auf der ganzen Welt durch entschlossenes Einschreiten das Finanzsystem vor dem Kollaps bewahrt. In der Eurozone hat die EZB nicht nur den Refinanzierungszins auf 1 Prozent gesenkt, sondern auch mehrere unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen ergriffen. So erhalten die Geschäftsbanken nun – gegen Hinterlegung von Sicherheiten – unbegrenzt Zentralbankgeld (Vollzuteilung), die Laufzeiten der Refinanzierungsgeschäfte stiegen von maximal drei Monate auf drei Jahre, die Anforderungen an Sicherheiten wurden heruntergefahren und der Katalog beleihungsfähiger Sicherheiten wurde erweitert. Zudem kauft die EZB am Sekundärmarkt Staatsanleihen, um ihre Renditen in einem für Schuldenländer erträglichen Korridor zu halten.
Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers sah sich die EZB zu Interventionen gezwungen, da sie in Europa als einzige Institution in der Lage war, die Banken und deren Sitzländer vor der Insolvenz zu retten. Die Euroländer und insbesondere ihre Finanzinstitute hatten zuvor Schulden angehäuft, die sie selbst nicht mehr tragen konnten. Ohne die umfangreichen Maßnahmen der EZB wären deshalb zuerst die Banken und anschließend die dahinter stehenden Staaten Pleite gegangen.
Vorübergehend scheint die EZB-Politik des lockeren Geldes das Finanzsystem zu stabilisieren und für Beruhigung an den Finanzmärkten zu sorgen. Da die EZB die Rolle des „Kreditgebers der letzten Zuflucht“ (lender of last resort) eingenommen hat, besteht nun allerdings die Gefahr, dass sich die Geschäftsbanken auch in Zukunft darauf verlassen, dass ihnen im Notfall die EZB zu Hilfe eilt. Folglich lassen sich die Banken bei der Risikovorsorge zuviel Zeit. Wie eine Autoversicherung sorgt die EZB also für „sittliche Gefährdung“ (moral hazard) bei ihren „Kunden“: Weil ein eventueller Schaden ja durch die Versicherung gedeckt ist, passen die Banken ihre Geschwindigkeit nicht den äußeren Bedingungen an, sondern geben unvermindert Gas.
Nachdem sich die EZB entschieden hat, den Banken beizuspringen, sollte sie nach Ansicht von Prof. De Grauwe keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie die Währungsunion verteidigen wird. Denn mangelnde Entschlossenheit kostet die EZB Glaubwürdigkeit bei den Investoren. Indem Zentralbankchef Draghi beteuert, dass die Hilfsprogramme nur vorübergehender Natur seien und auch nur gewährt würden, wenn sich nicht auf andere Weise ein Zusammenbruch des Finanzsystems verhindern lässt, verhält er sich laut Prof. De Grauwe wie ein General, der keine Lust hat, in den Krieg zu ziehen: Bevor er auf das Schlachtfeld stürmt, kündigt er an, so wenig wie möglich schießen zu wollen und so schnell wie möglich Kehrt zu machen.
Mit ihrem verhaltenen Vorgehen wird die EZB die Finanzmärkte jedoch nicht davon überzeugen können, dass sie alles tun werde, um den Euro zu halten und einzelne Staaten vor dem Austritt zu bewahren. Folglich geht die Spekulation auf das Ausscheiden einiger Euroländer aus der Währungsunion munter weiter. Dabei verfügt die EZB als einzige europäische Institution über unbegrenzte Feuerkraft: Sie hat das Monopol auf die Emission von Zentralbankgeld und damit immer Munition im Kampf gegen Spekulanten. Allein dieses Drohpotential sollte die EZB dafür nutzen, die Finanzmärkte zu überzeugen. Gelingt dies, dann muss sie letztlich gar nicht feuern.
Als Mitglied der Troika riskiert die EZB laut Prof. De Grauwe ferner ihre Unabhängigkeit. Indem sie zugleich Polizei und Feuerwehr spielt, schadet sie aber ihrem Auftrag, allein für Preisstabilität zu sorgen. Über die Vergabe von Hilfskrediten und die Überwachung der Einhaltung von Sparprogrammen sollten sich deshalb allein die Staaten kümmern. Der Fiskalpakt ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung – wenngleich er unbedingt von einem Wachstumspakt flankiert werden sollte.
Mit unkonventionellen Ideen wartet der ehemalige Banker Parameswaran auf. Er ist dagegen, Finanzinstituten mit Staatsgeld unter die Arme zu greifen. Auch Bankinsolvenzen sollten möglich sein. Stattdessen plädiert Parameswaran dafür, überschuldeten Hauseigentümern die Rückzahlung ihrer Kredite durch direkte Transfers zu ermöglichen, damit diese ihr Eigenheim behalten können. Manchem Diskussionsteilnehmer gehen solche Vorschläge freilich zu weit.
Einigkeit herrscht hingegen darüber, dass die Währungsunion dauerhaft nur durch eine Haushaltsunion zu stabilisieren ist. Oder wie Prof. De Grauwe es formuliert: „A currency without a country cannot survive“ (Eine Währung ohne Staat kann nicht überleben). Wenn die Mitgliedsländer gemeinsam ihre Staatsfinanzen in Ordnung bringen und für nachhaltiges Wachstum sorgen, kann sich die EZB wieder auf ihre vordringliche Aufgabe, die Gewährleistung von Geldwertstabilität, konzentrieren. Dies sollte schnell geschehen, denn die Stabilisierungspolitik der EZB ist in hohem Maße undemokratisch: Kraft ihrer gesetzlich verankerten Unabhängigkeit entscheidet die EZB frei von jeglichem politischen Einfluss. In einer Haushaltsunion dagegen würde die EZB ausschließlich Geldpolitik betreiben, die Bürger würden – repräsentiert durch die nationalen Parlamente und das Europaparlament – die Fiskalpolitik bestimmen.