Sven Giegold

Sächsische Zeitung: EU-US-Handelsabkommen bedroht die Europäische Demokratie

Sächsische Zeitung vom 22.03.2014logo_saechsische_zeitung

Das geplante Abkommen über freien Handel zwischen EU und USA schützt die Investoren – auf Kosten unserer Standards.

Von Sven Giegold

Europa ist Freiheit. Entscheidungsfreiheit. Durch das direkt gewählte Europaparlament setzen Bürger der EU dem Binnenmarkt Regeln: gegen giftige Chemie und Gentechnik im Essen. Für mehr erneuerbare Energien und Banken, die endlich den Menschen dienen. Das ist ein Gewinn dank der Vereinigung Europas. Denn Deutschland ist im globalen Maßstab inzwischen zu klein für eine soziale Marktwirtschaft. Große Konzerne können einzelne Länder gegeneinander ausspielen. Auch die Banken haben das in der Krise oft getan. Nur gemeinsam kann die EU die Bedingungen diktieren. Niemand kann sich den größten Markt der Welt mit 500 Millionen Menschen, weit größer als die USA, entgehen lassen. Die EU macht uns das Soziale an der Marktwirtschaft möglich. Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, kurz TTIP, wird bisher vor allem für Chlor-desinfizierte Hühnchen, Genmais und Rindfleisch voller Hormone kritisiert. Auch wir wollen gesundes Essen, das sind richtige Argumente. Aber noch gefährlicher ist der Angriff durch TTIP auf unser demokratisches Recht, unsere Marktwirtschaft sozial und ökologisch gestalten zu können.

Denn im Freihandelsabkommen sollen neue Sondergerichte und ein Klagerecht speziell für Konzerne festgeschrieben werden. Scheinbar ungefährlich ist von „Investitionsschutz“ die Rede. Konzerne bekommen „gerechte und billige Behandlung“ garantiert. Doch dahinter verbergen sich knallharte Regeln zum Schutz der politischen Interessen von großen Investoren. In solchen Schiedsgerichten entscheiden nicht Richter, sondern spezialisierte Anwälte, die oft vorher Konzerninteressen vertreten haben. Verhandelt wird meist geheim. Entscheidungen können nicht durch ordentliche Gerichte angefochten werden. Die Folge: Mit Verweis auf diesen schwammigen Schutzstandard in schon bestehenden Verträgen klagt der Energiebetreiber Vattenfall gegen den Atomausstieg in Deutschland und verlangt über 3,7 Milliarden Euro Schadensersatz. Durch das Abkommen entstünde ein umfassendes privilegiertes Rechtssystem für internationale Investoren. Dem müssten sich alle Mitgliedstaaten, deren Parlamente, Regierungen und sogar Gerichte unterordnen.

Mit Blick auf die europäische Erfolgsgeschichte wäre das jedenfalls ein riesiger Rückschritt. Die europäische Einigung brachte Frieden zwischen Erbfeinden. Die soziale Marktwirtschaft brachte große Fortschritte. Ihr geistiger Vater, Alfred Müller-Armack, Staatssekretär unter Ludwig Erhard, wollte, dass der Markt als „tragendes Gerüst“ in „eine bewusst gesteuerte, und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft“ eingebettet wird. Bürgerbewegungen und grüne Parteien haben zum sozialen auch ein ökologisches Gerüst dazugebaut. In den 1970ern wehte der saure Regen über europäische Binnengrenzen, und langsam übernahm die EU den zum Handel passenden Umweltschutz. Giftige Chemikalien konnten zurückgedrängt werden, aus unserer Nahrung, den Flüssen und der Luft. Agro-Gentechnik ist bisher in Europa verboten. Fortschritt kam oft langsam, war mühsam erkämpft. Aber je mächtiger das Europaparlament wurde, desto mehr konnte es den Willen der Bürger durchsetzen. Massentierhaltung, Kohle und Atom, betrügerische Banken: Bisher können wir hoffen, dass Protest und neue Mehrheiten Probleme lösen konnten.

Auch das geplante Abkommen betrifft Regeln für unser Wirtschaften. Das Wort Freihandelsabkommen klingt zuerst nach dem Abbau von Zöllen, also Steuern auf Importe. Aber die wurden zwischen der EU und den USA schon weitgehend abgeschafft oder auf ein Minimum reduziert. Der neue Vertrag soll Regeln für Produkte vom Supermarkt bis zur Börse vereinheitlichen, um den Markt größer werden zu lassen. Freihandel kann tatsächlich gute Produkte günstiger für alle machen. Falsch wäre es aber, Produkte zuzulassen, die für die Gesundheit, die Arbeitsbedingungen, die Umwelt oder die Stabilität des Finanzmarktes schädlich sind, nur weil sie kurzfristig günstiger sein könnten.

Langfristig zahlen Menschen mit ihrer Gesundheit und die Gesellschaft mit den Folgekosten einen viel höheren Preis. In Europa verwirklichen wir nach und nach ein soziales und ökologisches Gesellschaftsmodell, weil mit dem gemeinsamen Markt auch die gemeinsame Demokratie kam. Mit dem Abkommen kommt aber kein transatlantisches Parlament, sondern Fesseln für die bestehenden Parlamente.

Neue Fesseln für die Demokratie drohen durch die dauerhafte „regulatorische Zusammenarbeit“. Die Gremien, die Leben in den Vertrag bringen sollen, klingen aber eher nach Frankenstein. Dort sollen Lobbyisten diskutieren, ob von den Parlamenten diskutierte neue Regeln schädlich für den Handel im Geltungsbereich sein könnten. Schon jetzt kritisieren Viele zu Recht den Einfluss von Lobbyisten in Brüssel. Aber obwohl es viel mehr Lobbyisten als Abgeordnete gibt, behält die Demokratie immer wieder die Oberhand. Wenn das Abkommen käme, würden die Machtverhältnisse umgekehrt. Lobbyisten würden entscheiden, was die Demokratie noch verhandeln darf. Fortschritte für mehr erneuerbare Energien, für weniger Massentierhaltung, für gesündere Lebensmittel und Produkte wären fast unmöglich. Lobbyisten und der US-Kongress bekämen ein Veto in europäischen Entscheidungen. Das ist nicht die Freiheit, die wir an Europa lieben. Diese Beschränkung europäischer Kontrolle über unsere Zukunft werden die Grünen nicht akzeptieren.

Eine öffentliche Debatte über diese Bedenken ist kaum möglich, weil die laufenden Verhandlungen geheim sind. Die Bundesregierung und die anderen Regierungen im Ministerrat haben die Verhandlungsposition der EU beschlossen und halten sie seitdem selbst vor uns Parlamentariern unter Verschluss. Um endlich frei diskutieren zu können, haben wir Grünen das Verhandlungsmandat unter www.ttip-leak.eu veröffentlicht, damit sich alle selbst ein Bild machen können.

Wichtige Teile der Verhandlungen bleiben aber geheim. Das Corporate Europe Observatory, eine Nichtregierungsorganisation, wollte das Recht auf Informationsfreiheit nutzen, um Licht ins Dunkel der Vorbereitungstreffen der EU mit Industrielobbyisten zu bringen. Nach zehn Monaten erhielten sie schließlich 44 Dokumente, davon aber 39 an fast allen interessanten Stellen unkenntlich gemacht. Warum diese Geheimhaltung? Um wie beim Kartenspiel das beste Ergebnis für die EU zu erzielen, wie die Kommission begründet? Nach dem Überwachungsskandal um das Ausspähen durch den amerikanischen Geheimdienst NSA ist das naiv. Und warum macht die EU dann ihre Positionen in Verhandlungen der Welthandelsorganisation und bei Welt-Klimagipfeln öffentlich?

Wir wollen die volle Transparenz der Verhandlungen. Wir wollen ein Verhandlungsmandat, das unsere demokratische Selbstbestimmung und unsere sozialen und ökologischen Standards unangetastet lässt und keine Sonderrechte für Konzerne schafft. Deshalb werden wir die Europawahl am 25. Mai zu einer Abstimmung über das Abkommen machen. Ohne ein neues, viel schlankeres Verhandlungsmandat gibt es mit uns kein Abkommen. Der Sozialdemokrat Martin Schulz und der Konservative Jean-Claude Juncker kämpfen um den Job als EU-Kommissionspräsident. Beide werden zu einer Mehrheit Koalitionspartner brauchen. Die Stimmen der Grünen bekommt nur, wer die Demokratie und das Gemeinwohl in der EU schützt.

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