Sven Giegold

Rumänisch-deutscher Brief an Jens Spahn: Massenausbeutung von Arbeitnehmer*innen in Deutschland

Liebe Freundinnen und Freunde,

Liebe Interessierte,

der Fall hat zurecht einen Aufschrei ausgelöst. Systematisch werden Arbeitnehmer*innen vor allem aus anderen EU-Ländern in Deutschlands Fleischindustrie ausgebeutet. Es ist richtig wenn auch überfällig, dass Werksverträge in der Fleischindustrie nun gesetzlich von der Bundesregierung zurückgedrängt werden. Doch der eilends eingebrachte Gesetzentwurf von Arbeitsminister Heil ist auch ein Lehrstück für die Inkonsequenz der Politik. Denn ausländische Arbeitskräfte werden in Deutschland wahrlich nicht nur in der Fleischindustrie ausgebeutet. In einem beeindruckenden Webinar mit dem DGB-Projekt „Faire Mobilität“, der Gewerkschaft der Polizei und Kollegin Terry Reintke habe ich die Situation bilanziert (Video s.u.). Ausbeutung ist weit verbreitet auch in der Landwirtschaft, in sexuellen Dienstleistungen und Prostitution, in der Bauwirtschaft, in der häuslichen Pflege, in der Bauwirtschaft, im Transportsektor und bei Paketdienstleistungen, in anderen Bereichen der Lebensmittelverarbeitung, der Gebäudereinigung, usw. Wir reden hier nicht nur über die Arbeitskräfte von Clemens Tönnies sondern millionenfache Massenausbeutung mitten in Deutschland. Sie tritt in unterschiedlichen Formen auf: Scheinselbständigkeit, Werkverträge, überteuerte Wohnungen und andere Gebühren,illegale Beschäftigung, Zwangsarbeit, usw. In vielen Bereichen werden die Arbeitskräfte um ihren fairen Anteil an der Wirtschaftsleistung gebracht, die sie in Deutschland erwirtschaftet haben. Deutschlands Wirtschaftsstärke ist auf Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland und darüber hinaus angewiesen und selbstverständlich sollte der deutsche Arbeitsmarkt für sie weiterhin offen stehen. Aber auch Arbeitnehmer*innen aus dem Ausland haben ein Recht auf einen fairen Lohn und soziale Absicherung ohne Ausbeutungsverhältnisse. Ohne die Duldung von Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte würden auch die Arbeitsbedingungen der heimischen Arbeitskräfte besser. Der Rechtsstaat muss für alle und in allen Wirtschaftssektoren stark sein. Mit der Reform der EU-Entsenderichtlinie ist uns vor zwei Jahren ein großer Schritt gelungen, der aber leider bei weitem nicht in allen Fällen greift.

Es ist inakzeptabel, dass wir vor dieser Fehlentwicklung länger die Augen verschließen. Als kurz vor der parlamentarischen Sommerpause Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in den Ausschuss für Umwelt und Gesundheit des Europaparlaments kam, fragte ich ihn, wie er denn künftig sicherstellen will, dass alle Arbeitskräfte in Zukunft effektiven Zugang zu Gesundheitsversorgung in Deutschland bekommen. Fast die gleiche Frage stellte direkt vorher mein rumänischer Kollege aus der liberalen Fraktion Nicolae Ștefănuță. Wir beide bekamen keine konkrete Antwort von Jens Spahn. Das war unbefriedigend. Daher haben wir uns zusammengetan und länger telefoniert sowie nun gemeinsam an Jens Spahn geschrieben. Unseren Brief gaben wir gleich der Regionalpresse in Spahns Heimatregion. Unten der ganze Brief. 

Wir bleiben dran! Denn Nicolae Ștefănuță und mich eint eine gemeinsame Perspektive: Wir wollen einen europäischen Arbeitsmarkt. Gerade für Menschen aus Ost und Zentraleuropa ist der deutsche Arbeitsmarkt eine große Chance. Genauso braucht die deutsche Wirtschaft auch in Zukunft Arbeitskräfte aus anderen Ländern. Aber: Für gleiche Arbeit muss es gleiche Rechte geben. Ausbeutung ist inakzeptabel. Fairer Lohn und soziale Absicherung muss für Alle gelten – egal woher sie kommen.

Das wäre auch gut für Europa, denn der deutsche Leistungsbilanzüberschuss würde sinken, wenn wir endlich faire Löhne in Deutschland zahlten. Das gilt auch für deutsche Arbeitskräfte, die im Niedriglohnsektor schuften müssen. Die Chance auf höhere Löhne und bessere Bedingungen würde auch für sie steigen, wenn die Ausbeutung von europäischen und anderen internationalen Arbeitskräften endlich aufhört.

Mit europäischen grünen Grüßen

Sven Giegold

 

Video des Webinars „Massenausbeutubg von EU-Arbeitnehmer*innen in Deutschland“:

https://sven-giegold.de/europe-calling-massenausbeutung-eu-arbeitnehmerinnen/

P.S.: EINLADUNG zur Online Konferenz:Europäische Chemiewende – nachhaltig, wettbewerbsfähig, schadstofffrei” am Dienstag 1. September, 10 – 12:30 Uhr. Gemeinsam mit meiner Fraktionskollegin Jutta Paulus werden wir unsere Prioritäten für eine nachhaltige Chemikalienpolitik diskutieren mit EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius und Vertretern von BASF, Zivilgesellschaft und weiteren Gästen. Seid dabei und meldet Euch gleich hier an: Zur Anmeldung

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Link zu unserem Brief: https://sven-giegold.de/wp-content/uploads/2020/07/Brief_Nicolae-_tefanu_a-Sven-Giegold_13-Juli-2020.pdf

Unser Brief im Wortlaut:

Soziale und gesundheitliche Absicherung der EU-Arbeitnehmer*innen in Deutschland

Sehr geehrter Herr Bundesminister Spahn,

während des Meinungsaustauschs zu den Prioritäten der deutschen Ratspräsidentschaft im Ausschuss für öffentliche Gesundheit des Europaparlaments am 6. Juli 2020 haben wir jeweils die schlechte soziale und gesundheitliche Absicherung der EU-Arbeitnehmer*innen in Deutschland angesprochen. In Ihrer Antwort haben sie zwar unsere Sorgen geteilt, aber keine konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Situation angekündigt. Deshalb möchten wir Sie nochmals nachdrücklich bitten, als Ratspräsidentschaft die Initiative zu ergreifen und die umfassende soziale und gesundheitliche Absicherung aller EU-Arbeitnehmer*innen in Deutschland und Europa zu garantieren.

Die Corona-Krise hat die skandalösen Arbeitsbedingungen in der fleischverarbeitenden Industrie offengelegt. Dabei ist der Skandal im Tönnies-Betrieb nur einer von vielen. Immer wieder hören wir von neuen Corona-Ausbrüchen. Diese betreffen überproportional oft EU-Arbeitnehmer*innen. Das Ende der Werkverträge in der fleischverarbeitenden Industrie ist ein erster Schritt, um die gesundheitlichen Gefahren einzugrenzen und für sozial gerechte Arbeitsbedingungen zu sorgen.

Doch die schlechten Bedingungen, unter denen tausende weitere EU-Arbeitnehmer*innen als Werksarbeiter, entsandte Arbeitnehmer, Scheinselbständige, sowie informelle Beschäftigte leiden, werden so nicht verbessert. Fehlende Rechte und Würde sowie unanständig schlechte Bezahlung betreffen hunderttausende EU-Arbeitnehmer*innen alleine in Deutschland: Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft, Frauen in der häuslichen Altenpflege, Paketlieferanten und Fernfahrer, Gebäudereiniger*innen, Ausgebeutete in sexuellen Dienstleistungen und Prostitution, Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit am Bau und selbst in der Industrie werden ausländische Arbeitskräfte ausgebeutet. Lange Subunternehmerketten und fragwürdige Arbeitsagenturen nehmen den Arbeitskräften ihren gerechten Lohn. Scheinselbständigkeit wird nicht unterbunden, sondern in vielen Branchen massenhaft geduldet. Auch die häufig prekäre Unterbringung von EU-Arbeitnehmer*innen ist weiterhin an der Tagesordnung.

Deutschland muss deshalb schnellstmöglich handeln. Den gesundheitlichen Schutz aller Arbeitnehmer*innen zu garantieren, muss eine Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft sein. Im Programm der Ratspräsidentschaft findet sich jedoch nur ein vager Verweis auf Saisonarbeitskräfte. Wir möchten Sie daher fragen: Was werden Sie darüber hinaus konkret unternehmen, um allen EU-Arbeitnehmer*innen den effektiven Zugang zu gesundheitlicher Absicherung zu gewährleisten? Wie werden Sie für gesunde Arbeitsbedingungen für EU-Arbeitnehmer*innen sorgen? Wie werden Sie im Gesundheits- und Pflegesektor für anständige Arbeitsbedingungen für Alle sorgen?

Wir zählen auf Ihre Initiative zum Schutz aller Arbeitnehmer*innen in Deutschland und in der EU. Nutzen Sie die nächsten sechs Monate, um sich in Deutschland und Europa für sozial gerechte Arbeitsbedingungen für alle europäischen und internationalen Arbeitskräfte einzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen

MdEP Nicolae Ștefănuță

MdEP Sven Giegold, Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament

 

Rubrik: Europaparlament, Wirtschaft & Währung

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